Die einzigartige Strecke des Jungfrau-Marathons 2010
Eins vorweg: für jemanden, der eine neue Grenzerfahrung braucht, ist der Lauf genau das Richtige.
Der Jungfrau-Marathon ist laut Veranstalter einer der schönsten Marathon-Strecke der Welt! Eine phantastische Kulisse bieten die Bergriesen, großartig die wechselnden Szenerien zwischen Start und Ziel. Eine Herausforderung, ein Challenge, die 1829 Höhenmeter zwischen Interlaken und der Kleinen Scheidegg. Es gibt keinen Marathon in Europa mit derartigen Dimensionen wie Eiger-, Mönch- und Jungfrau-Marathon: das berühmteste Dreigestirn der Alpen.
Es ist wirklich ein Marathon der ganz anderen Art, Erlebnis und Abenteuer zugleich. Teils Straßenlauf, teils Trail-Run, teils Gebirgslauf, teils Bergsteigen. 1829 m Steigung und 305 m Gefälle hören sich eigentlich nicht so schlimm an, aber leider sind die Steigungen nicht gleichmäßig verteilt. Doch jetzt chronologisch.
Das Wetter ist heute am 11.09.2010 phantastisch. Bereits beim Start am Casino in Interlaken ist der Himmel um 9.00 Uhr wolkenlos und blau. Angenehme 13 °C, warme Kleidung ist nicht erforderlich. Die Wetterprognose verspricht für den gesamten Tag Sonnenschein, mittags 18° C in Wengen auf einer Höhe von ca. 1200 m und am Ziel auf der Kleinen Scheidegg sind auch noch 14°C vorausgesagt, man kann also unbesorgt in „kurz“ laufen. (Rückblickend werde ich sagen, dass, die Wetterprognosen weit übertroffen wurden; es war fast überall bis zu 5°C wärmer!)
4600 angemeldete Starter, die sich manierlich im Startbereich einreihen. Es wird nochmals darauf hingewiesen, dass die Zeiten von einem Flachmarathon keine Aussagekraft für den Lauf besitzen; es sei damit zu rechnen, dass man, je nach Leistungsstand, schon mit 1 bis 1,5 Std. Zeitaufschlag rechnen müsse. Dementsprechend beginnen die Pacemaker auch erst mit einer Endzeit von 4 Std. Optimistisch wie ich bin, reihe ich mich bei meinem Pacemaker mit der Endzeit 5:30 h ein. Dann geht es los, alles etwas beschaulicher als bei den großen Stadtmarathons, eigentlich sehr familiär. Der Startschuss unter großem Beifall der Läufer und der Zuschauer, die hier direkt an der Strecke im Starbereich stehen können und natürlich auch mitfiebern. Gedrängel gibt es natürlich trotzdem, aber gut 2 min nach Startschuss laufe ich bereits über die Startlinie.
Nach dem Start kommt erst einmal eine 3-km-Schlaufe durch Interlaken, sozusagen zum Einlaufen, damit sich das Feld entzerrt – dann nochmals am Startbereich vorbei, wo uns herzlich zugejubelt wird. Danach einen Abstecher zum fast 300 m tiefen grün-blauen Brienzersee. Die ersten 10 km sind flach als wär's ein City-Marathon. Dementsprechend kann ich meinen anvisierten Schnitt von 5:30 min/km auch nahezu perfekt einhalten und passiere in 55:05 min die 10 km- Marke. Ca. 1 km weiter, bei der uralten Holzbrücke von Wilderswil, verlassen wir die Straße. Es folgt der erste ruppige Anstieg. Hinauf geht's, das Tal und vor allem die Wege werden enger, es können teilweise nur 2 bis 3 Läufer nebeneinander laufen. Meinen Pacemaker habe ich verloren, da ich ihm nur bei rücksichtloser Laufweise hätte folgen können, aber ich habe meine Laufgeschwindigkeit gefunden und vertraue meinem Gefühl. Zudem gibt es viele nette Gesprächspartner. Die Landschaft wird jetzt durch hohe Felswände geprägt. Wir passieren das Marathon-Dorf Lauterbrunnen, mit dem berühmtesten Wasserfall, dem Staubbach, genau bei halber Distanz. Hier erfolgt die erste Zeitmessung. Halbmarathonzeit von 2:02 h, also nur 2 min über meiner selber geplanten Zwischenzeit. Die 260 Höhenmeter, die bisher zurückgelegt sind, habe ich eigentlich gar nicht bemerkt. Ach, die Welt ist schön und alles ist in Ordnung!
Es folgt auf 800 m Höhe eine sehr flache 6-km-Schlaufe zum Trümmelbach, landschaftlich wunderschön anzusehen, immer am plätschernden Bach entlang. Es geht wieder zurück nach Lauterbrunnen, bis - bei km 26 - der ganz große Aufstieg beginnt. Hinein in die Wand: 26 Serpentinen bis Wengen! (ein Ort, der mit dem Auto nicht zu erreichen ist). Auf einer Strecke von ca. 3 km sind fast 500 Höhemeter zu überwinden, das sind durchschnittlich 16% Steigung! Das Laufen wird hier zum Gehen. Der Weg ist steinig, teils rutschig. Erste Krämpfe in den Waden machen sich bei dieser Beanspruchung bemerkbar. Ich sehne mich nach dem Gehardt-Hauptmann-Weg auf der Ruhrklippe zurück - wie einfach ist diese doch und man weiß wann die Steigung zu Ende ist!
Die Streckenmarkierungen erfolgen hier nicht mehr nach jedem km, sondern alle 250 m, allerdings ist die zurückgelegte Zeit fast die gleiche wie bei bei einem flachen km. Bei km 29 dann eine kleine Entspannung, es geht leicht bergab, das Anlaufen verursacht dann aber natürlich gleich eine Verkrampfung der Beine. Den Veranstaltern des Laufes scheint das bekannt zu sein, denn 200 m weiter ist gleich die erste Massagestation, wo sich bereits eine längere Schlange gebildet hat. Ich reihe mich ein und komme auch irgendwann dran. Allerdings stelle ich mir schon bald die Frage, was schmerzhafter ist, die Krämpfe oder die Massage. Aber irgendwann werden die Waden wieder weicher, es geht weiter. Noch 1 km leicht bergauf, auf wieder befestigten Wegen nach Wengen, wo viele Zuschauer an der Strecke stehen und die Stimmung gut ist. Hier, auf der Sonnenterrasse, hoch über dem Tal, erreichen wir den 30. Kilometer. 30 Kilometer hinter uns, 800 Höhenmeter unter uns. Bei km 30,3 überschreite ich die Zeitschranke mit einer Zeit von 3:25 h, immer noch gut in der Zeit, trotz Massage (hier wird man erst bei einer Zeit von über 4:10 h aus dem Rennen genommen).
Ich kann bis jetzt gar nicht sagen, was beeindruckender ist: die stetig wechselnden Ausblicke auf Gletscher, hohe eis- und schneebedeckte Berge, in die Tiefe stürzende Wasserfälle, die klare Bergluft, die immer wieder den Weg der Läufer kreuzenden Wagen der Jungfraubahn, mit den jubelnden und winkenden Menschen, das internationale Läuferstimmengewirr oder die Kuhglocken schwingenden oder mit anderen Lärminstrumenten ausgestatteten dicht gedrängten Zuschauer.
Ich rechne derweil: noch 12 km, das sollte doch in einer Zeit von 2 Stunden, also Gesamtzeit unter 5:30 h, zu schaffen sein! Also sage ich mir: „Lass dir Zeit, mach dich nicht verrückt, alles halb so schlimm!“
Ich sollte mich täuschen.
Weiter geht´s, den nächsten km wird man vom Applaus getragen, dann raus aus dem Ort, rein in den Wald. Noch liegen knapp 1000 m Steigung vor mir bis zum Ziel, aber die Landschaft und das Kaiserwetter scheinen schon vorweg entschädigen zu wollen; es sind mindestens 20°C; Sonnenschein pur. Zum Glück mangelt es nicht an Verpflegungsstationen mit isotonischen Getränken, Wasser und Boullion, worauf ich immer wieder zurückgreife.
Die Organisation auf der Strecke ist wirklich gut.
Allerdings fange ich jetzt wieder das Rechnen an, noch 10 km bis zum höchsten Punkt und 1000 Höhenmeter, das sind also 10 % Steigung. Leider ist diese Steigung nicht gleichmäßig; da es immer wieder flachere Passagen gibt, kommen dann auch unweigerlich erheblich steilere Abschnitte, ein Genuss für die bereits strapazierten Beine. Wie bei den meisten anderen, ist mein Laufen eher zu einem schnellen Gehen stagniert. Anfangs versuche ich zwar, die flacheren Abschnitte noch zu laufen, doch gebe ich diese Absicht sehr schnell wieder auf, da dieser ständige Wechsel meinen Beinen nicht bekommt. Ich befinde mich aber in guter Gesellschaft, es ergeben sich viele nette Gespräche – eigentlich könnte es ein schöner Genusslauf sein! Trotzdem melden sich immer wieder mal meine Waden und auch meine Oberschenkel stoßen mittlerweile ins gleiche Horn und signalisieren mir, dass ich wohl nicht ausreichend trainiert habe. Ich passiere so Marke um Marke (wie gesagt, Markierung alle 250 m). Die Landschaft ist immer noch sehr reizvoll. Über uns thront die Jungfrau. Bei km 32 km empfängt uns ein Schild mit der Aufschrift: „Die Hälfte ist geschafft, nur noch 900 Höhenmeter“. Ich laufe/gehe mittlerweile in einer Gruppe aus Eschweiler. Wir machen uns gegenseitig Mut und haben viel Spaß bei dem Schild, ohne das uns die Aussage, bzw. die Strapaze, die dahinter steckt, wirklich bewusst wird. Wir sprechen schon vom Bier, das wir uns im Ziel gönnen werden, aber es fehlen ja noch 10 km.
Endlich komme ich zur Liftstation Wixi, km 37,9, die letzte Zeitmessung vor dem Ziel. Zeit 4:49 h, zwar viel Zeit verloren. Nun habe ich es fast geschafft, das Ziel auf der Kleinen Scheidegg vis-a`-vis von Eigernordwand, Mönch und Jungfrau erscheint zum Greifen nah, es sind ja nur noch 4 km. Wer nicht mehr kann, sollte hier aufhören, so die Warnung der Veranstalter, da eine vernünftige Versorgung im nachfolgenden Abschnitt nicht mehr möglich ist. Ab jetzt gibt es auch keine Wege mehr. Die Baumgrenze ist erreicht. Flatterband und Fähnchen zeigen jetzt an, wo es weitergeht, nur noch Albwiesen und schroffe Felsen. Jetzt beginnt das Bergsteigen, Steigungen von über 20% auf unbefestigten Trampelpfaden, in einigen Bereichen wurden Treppenstufen aus Steinen oder Erde angelegt, damit ein hochkommen überhaupt möglich ist, aber auch für die abwärts gerichteten Passagen ist dies notwendig gewesen. Der Blick geht jetzt nicht mehr hoch zum Jungfraujoch, jeder Fehltritt hat Konsequenzen auf den unebenen Wegen, teils vernässte rutschigen Abschnitten. Ich versuche Halt zu finden, was die Beine mit Krämpfen quittieren.
Dann der Beginn der berühmten Moräne, hier stehen nochmals Albhornbläser, die einem Mut machen sollen. Eine kurze Rast an der letzen Verpflegung (wie die da hingekommen sind, erscheint mir rätselhaft). Ich setze mich kurz am Hang hin, was ein Fehler ist, da sich die Waden wieder verkrampfen und ich gefühlt etliche Minuten warten muss, bis mir einer der anderen Läufer hilft, die Füße wieder in die richtige Position zu bringen, so dass ich aufstehen kann. Auf die Uhr schaue ich gar nicht mehr, Zeit ist egal. Mein Ziel nun: nur noch ankommen! Zeit gut zu machen ist ab hier nicht mehr möglich. Das ist einer der wenigen Wermutstropfen des Jungfrau Marathons.
Es geht weiter, allerdings fühle ich mich wie beim Einkaufen an der Kasse: es geht langsam voran und stockt immer wieder, kein laufen, kein gehen, ich werde in einer langen Schlange nach vorne getrieben, den Rhythmus gibt die Masse vor, fremdbestimmt, Schritt für Schritt, über die Felsen. Überholen ist auf dem schmalen Grat nicht möglich. Langsame, sich mit letzter Kraft auf den Berg hinauf schleppende Marathonies, versperren den ohnehin schmalen Weg. Immer wieder stockt es, da Hubschrauber „Teilnehmer“ aus der Schlange rausholen, die völlig entkräftet zusammengebrochen sind oder sich verletzt haben. Ich selber nehme das allerdings nur noch halb, wie in Trance, wahr. Die Schönheit der Landschaft entlang des Eigergletschers kann ich nicht mehr genießen, ich will nur noch ins Ziel, habe eine geistige Leere und setze nur noch stupide Schritt für Schritt, sofern es denn geht, voreinander, bis ich irgendwann auf dem höchsten Punkt, der Locherfluh, bei 2205 mNN ankomme.
Da steht der berühmte Dudelsackspieler, der leider zu dem Zeitpunkt, wo ich ihn passiere, nicht spielt. Ich bekomme trotzdem eine Gänsehaut, denn man hat das Ziel etwas unterhalb vor Augen. Ich habe erfahren, dass diesmal Seppli Rast den Dudelsack pfeift. Ramon Käslin, der wie kein Zweiter das Bild des Jungfrau Marathons geprägt hat, war im Frühjahr im Alter von 78 Jahren verstorben. Damit ging ein Stück Jungfrau Marathon Geschichte zu Ende. Zu seinem Gedenken ziert sein Bild die diesjährige Finisher Medaille. Außerdem war eine Gedenktafel mit einem Bild von ihm an dem höchsten Punkt aufgestellt.
Ich bin wieder klar im Kopf, jetzt habe ich es fast geschafft, nur noch 1,5 km. Es geht wieder bergab. Ich laufe an, stoppe ab. Krampf! Egal, weiter, aber langsam, ja, es geht wieder. Noch mal eine Rampe hoch und über eine Klippe 2 m senkrecht in die Tiefe (Dank an die netten Helfer). Ein Kilometer noch. Ich sehe das Ziel und schaue auf die Uhr, erschrecke über die verstrichene Zeit, wo ist sie geblieben? Jetzt kommt der Ehrgeiz wieder: Ich habe mit meinem Lauffreund aus Goslar eine Wette offen: Wenn ich in einer Zeit unter 6 Stunden ins Ziel komme, muss er den Brockenmarathon im Harz (Deutschlands härtester Marathon, mit gerade mal 800 m Höhenmetern, also etwas für Flachlandtiroler) laufen. Krämpfe hin oder her, los jetzt. Die Endorphine lassen grüßen, es läuft wieder einigermaßen rund zum Schluss. Ich überquere die Ziellinie auf der Kleinen Scheidegg in einer Zeit von 5:59:38! Und höre mich so etwas wie „Nie wieder“ sagen.
Selbst mit dieser Zeit bin ich in der Gesamtwertung 2631ter geworden, bei insgesamt 4027 Finishern. Erschöpft aber überglücklich nehme ich Medaille und Finishershirt, das ich mit Stolz tragen werde, entgegen.
Die Verpflegung im Zielbereich lässt dann leider zu wünschen übrig. Mein wohl verdientes Weißbier muss ich zudem selber bezahlen.
Was die Schweizer aber sonst oben auf der Kleinen Scheidegg auf die Beine stellen ist rekordverdächtig: Transport der über 30 Tonnen Gepäck bis ins Ziel, Sanitätsdienste, warme Duschen für alle in Armeezelten, Zielverpflegung, Medaille, Finisher-Shirt, laufend aktualisierter Ergebnisdienst, Massage und natürlich der (zugegeben zeitintensive, ich habe 2 Stunden zurück nach Interlaken, benötigt) Rücktransport mit der Zahnradbahn ins Tal. Dabei hat man ausreichend Gelegenheit, die Strecke oder auch das Lauf Revue passieren zu lassen.
Mittlerweile sind die Strapazen überstanden und der Blick ist in der Rückschau verklärt.
Ich fange an zu überlegen, welchen Lauf ich als nächstes angehe, allerdings mit einer besseren Vorbereitung (5 Wochen sind wohl doch zu wenig). Sicher ist jedenfalls, dass es kein flacher Stadtmarathon, sondern einer mit Bergen wird. Vielleicht wird es ja auch noch mal der Jungfrau-Marathon.
Norbert Meyer