Swissalpine K 78 am 31.Juli 2010: Kaiserwetter auf der Königsdisziplin
Um 3:40 Uhr am Samstagmorgen klingelt der Wecker auf dem Zimmer im Hotel Cresta, wo ich seit vorgestern untergebracht bin. Vorher war ich zwei Wochen mit Ute im Wallis zum Wandern und Bergsteigen, eine gute Vorbereitung für das Abenteuer K 78. Ich bin schnell aus den Federn und gehe durch die sternenklare Nacht ins benachbarte Hotel Cresta Sun zum Frühstück. Dort treffe ich Gabi aus Thüringen - auch mit dem Veranstalter Laufreisen aus Dortmund hier, aber schon seit dem letzten Wochenende bei einer Trainingswoche mit der Top-Favoritin Jasmine Nunige – und gemeinsam genießen wir um 4:00 Uhr das frühe Frühstück, garniert mit Gesprächen über Lauferlebnisse – eine schöne Einstimmung auf einen Traum-Tag. Ich bin erstaunlich unaufgeregt und freue mich auf den Lauf, der schon seit vielen Jahren auf meiner Wunschliste steht. Ein bisschen getrübt ist die Vorfreude, weil Brigitte – eine Lauffreundin vom Lauftreff Bittermark – wegen Achillessehnen-Problemen nicht teilnehmen kann, so muss ich halt für sie mit laufen.
Um viertel nach fünf geht es dann zum Frühstart ins Davoser Sportzentrum um 6:00 Uhr. Zum 25. Jubiläum des Swiss Alpine bietet der Veranstalter dies zum ersten Mal an, um auch langsameren Läufern (zwischen 11 und 14 Stunden Endzeit) die Teilnahme zu ermöglichen. Auf dem Weg zum Stadion wird es hell, der Tag verspricht – wie von Meteo Schweiz prognostiziert – Traumwetter ohne Wolken, und vor allem ohne Regen, Schnee und Kälte wie in den vergangenen Tagen. Selbst gestern hat es morgens noch kräftig geregnet, aber die Wettervorhersagen für Samstag waren eindeutig gut, perfektes Timing!
Im Stadion ist schon einiger Trubel, aber ohne jede Hektik. Immerhin über 400 Läufer (= ¼ der Gesamtstarter) nutzen den Frühstart. Kleiderbeutel für mögliche Kleidungswechsel in Bergün auf halber Strecke abgegeben, noch mal aufs Klo und dann ab zum Start. Es ist recht kühl, aber warm genug wird es heute noch werden. Gänsehaut-Musik, gutgelaunte Gesichter um einen herum, Punkt 6:00 Uhr der Startschuss, los geht’s zum größten Berg-Ultramarathon der Welt.
Nach einer Runde durch das noch etwas verschlafene Davos – ein paar Teenies, die gerade aus der Disko kommen, feuern uns an – und nach 5 Kilometer geht es am Bahnhof Davos-Platz vorbei aus dem Ort raus. Zunächst noch eher flach, doch die ersten Steigungen lassen nicht lange auf sich warten. Die Strecke bis Filisur kenne ich noch von 2008, wo ich den (flacheren) C 42 gelaufen bin. Erste kleine Ortschaft ist Spina mit der bekannt guten Stimmung: Kuhglockenläuten und ein liebevolles Begrüßungs-Tor, extra für den Jubiläumslauf angefertigt. Die 5-Kilometer-Abschnitte ziehen vorbei, es ist eine tolle Morgenstimmung, auf der anderen Talseite steigt die Sonne hoch, wir laufen bis Filisur noch meist im Schatten. Ein gutes Gefühl macht sich breit, es läuft rund. Hinter Monstein werden die bisher erlaufenen Höhenmeter durch einen steilen Abstieg ins Tal wieder mehr als aufgebraucht. Dann ein viel fotografiertes Highlight des Laufs: die alte Straße oberhalb der Zügenschlucht mit ein paar Tunneln und beeindruckenden Tiefblicken. Tief runterschauen kann man kurze Zeit später auch vom Eisenbahn-Viadukt hinter Wiesen, man läuft hier über Gitterroste an der Außenseite der Brücke und manche Läufer kriegen hier ein etwas mulmiges Gefühl. Zur willkommenen Ablenkung und musikalischen Untermalung stehen am Ende der Brücke drei Alphornbläser und geben ihr Bestes. Dann geht’s weiter hinunter in den größeren Ort Filisur, tiefster Punkt des Laufs bei km 31, große Verpflegungsstation und Superstimmung. Als ich die Unterführung am Bahnhof durchlaufe, muss ich mit den Tränen kämpfen, denn hier habe ich 2007 weitgehend bewegungsunfähig an der Strecke gesessen, nachdem ich mir kurz vorher einen üblen Bandscheibenvorfall zugezogen habe, der dann in Dortmund operiert werden musste. Von daher war hier noch eine Rechnung offen, die es heute zu begleichen gilt.
Der C 42 biegt in Filisur rechts ab, für die 78er geht es geradeaus weiter. Zunächst noch abwärts und flach, dann zunehmend steigend auf der gesperrten Albula-Pass-Straße hoch nach Bergün. In meiner Leistungsklasse wird hier gewandert, die um 8 Uhr gestarteten Top-Läufer ziehen locker an einem vorbei – andere Liga! Bald ist das schöne Dorf Bergün erreicht, mit gut 39 km ist hier bereits die Hälfte der Strecke absolviert, aber jetzt wird es langsam ernst. Ich genieße noch mal die vielen Leute und die Superstimmung, Ute begrüßt mich an der Strecke (sie und die anderen 1100 K 42-Läufer starten hier kurze Zeit später) und ich freue mich, dass es mir immer noch gut geht. Die letzten Meter Asphalt bis Davos, dann geht’s aus dem Ort in das Val Tuors und auf stetig steigender Forststraße bis nach Chants, immerhin 600 Höhenmeter von Bergün. Ich gehe die meisten Stücke, mit besserem Trainingsstand könnte man hier – genauso wie auf der Straße hoch nach Bergün - laufend viel Zeit gutmachen. Aber das veranlasst mich nicht zu schlechten Gedanken, ich „laufe/gehe meinen Stiefel“ und freue mich über den rauschenden Bach und die schöne Landschaft.
Hinter Chants mit Verpflegungsstation geht es „auffi“ und nach ein bisschen Vorgeplänkel im mittleren Stück ganz schön steil, hier gehen auch die Profis. Mittlerweile oberhalb der Baumgrenze, wird es dank der Sonne am blauen Himmel auch schön warm, der Weg wird steiniger und schmaler: aus meiner Sicht das anstrengendste Stück des Laufs. Irgendwann taucht dann über einem die Kesch-Hütte auf und erstaunlich schnell bin ich nach Passieren des 50 KM-Schildes an diesem wichtigen Zwischenziel, mit 2.630 m der höchste Punkt der Strecke. Kurz vor der Hütte dann der prüfende Blick des Rennarztes: grünes Licht für’s Weiterlaufen. Hier bin ich erstmal happy, es ohne Probleme geschafft zu haben, auch wenn sich ab und an die Waden- und Oberschenkelmuskeln mit zaghaften Krämpfen melden, das sollte mich bis zum Ziel begleiten, hat mich aber zum Glück nicht besonders beeinträchtigt. Ich bin aber daraufhin besonders aufmerksam, weiter genug zu trinken und ein paar Häppchen zu essen: Heiße Brühe, Wasser, Tee, Bananen und Rosinenbrötchen sind für mich erste Wahl an den hervorragend bestückten Verpflegungsstellen mit vielen freundlichen und engagierten Helfern. Ein großes Dankeschön an dieser Stelle: Dies macht – neben der tollen Landschaft und der übrigen perfekten Organisation – die Qualität und den Reiz dieses Laufs aus!
Nach der Kesch-Hütte geht es zunächst ein Stück abwärts – die Marathonis laufen hier bis ins Tal hinunter und müssen dann 300 Höhenmeter wieder hoch zum Pass – und dann folgt mit dem 7 km langen Panorama-Trail zum Scaletta-Pass ein weiteres Highlight. Ohne große Höhenunterschiede läuft man auf meist schmalem Weg am steilen Hang oberhalb des Tals, mit diversen Gehstrecken und ein paar kleinen Staus, da das Überholen hier oft nicht so einfach ist. Ein paar Bäche und ein kleines Schneefeld sind zu queren, leider kann man die tolle Aussicht – unter anderem auf den Piz Kesch, auf dessen Gipfel ich 2008 einen Tag vor dem Marathon gestanden bin - nicht so genießen, da der schmale Weg viel Aufmerksamkeit erfordert. Ich komme unfallfrei durch und passiere kurz vor dem Scalettapass auch ohne Einspruch den Rennarzt, der alle mit Namen anspricht und ihnen tief in die Augen schaut. Hier gibt es noch einmal einen tollen hochalpinen Verpflegungsstand und ich gönne mir eine kurze Massage meiner ab und zu krampfenden Beinmuskeln – eine Wohltat!
Vor dem nun folgenden Wegstück hinunter in den Talgrund hatte ich nach gut 60 km gehörigen Respekt, aber der Weg ist meist gut zu laufen und nicht so steil und steinig wie befürchtet. Unten im Tal dann die Verpflegungsstation Dürrboden, Riesenstimmung und Musik, ab nun auch mit Cola an den Ständen. Eigentlich hatte ich mir vorher gedacht: In Dürrboden ist das Rennen gelaufen, dann lässt du es schön ausrollen das Tal hinunter ins Ziel. Doch dieser Schlussabschnitt mit seinen knapp 15 km macht mir ganz schön zu schaffen. Es geht durchaus nicht nur bergab, der Weg abseits der Fahrstraße ist streckenweise noch recht anspruchsvoll und so langsam merkte ich die 10 bereits absolvierten Laufstunden in den Knochen und im Kopf. Aber wie das so ist bei langen Läufen: Man weiß, dass man da durch muss und läuft halt einfach weiter, auch wenn die markierten 5-km-Abschnitte offenbar immer länger werden. Dann kommen die ersten Vororte von Davos in Sicht, eine letzte Verpflegungsstation bei Km 75 und dann als kleine Schikane noch mal schön den Berg hoch und in einer großen Schleife oberhalb von Davos. Aber das hat mich nicht mehr wirklich „angefressen“, da mir mittlerweile klar ist, dass ich den Lauf nicht nur finishen, sondern auch meine Wunschzeit „sub 12 Stunden“ schaffen werde. Irgendwann geht’s dann wirklich bergab in den Ort, über die Hauptstraße ins Stadion, begeisterte Menschen am Straßenrand und im Stadion und nach 11 Stunden und 48 Minuten bin ich dann im Ziel des K 78! Großes Glücksgefühl, netter Empfang durch Nils von Laufreisen.de, das verdiente Erdinger alkoholfrei, Abendsonne und tolle Atmosphäre genießen, Ute im Finish des K 42 begrüßen, Medaille und Finisherjacke abholen und mit glücklichem und stolzen Gefühl den bereitliegenden Stempel „Ziel erreicht“ auf die Startnummer gedrückt.
Unter blauem Abendhimmel geht’s ins Hotel Duschen und Essen, anschließend zur Farewell-Party mit Siegerehrung in die Eissporthalle und vorm Schlafengehen noch ein verdientes „Absacker-Bier“ an der Hotel-Bar. Am nächsten Tag – Schweizer Nationalfeiertag – Fahrt mit der Rhätischen Bahn nach St. Moritz, bis Bergün kann man noch mal die Laufstrecke Revue passieren lassen. Ein schöner Ausklang eines tollen Laufwochenendes, von dem ich noch einige Zeit zehren werde.
Franz-Josef Ingenmey